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”Das Hohe Lied des Goldenen Drachen”
 

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Es geschah vor ungezählten Sommern, in einem Land, das voller Leben war, fruchtbar und grün.

Die Menschen in diesem Land waren stark und gediehen, so wie das Wild, das sie jagten und der Boden, den sie bestellten.

Auch wenn der Tod allgegenwärtig war, durch Stammesfehden, Raubtiere und dem Land selbst, so war doch in allem Ordnung und Gleichgewicht, die das Land und seine Bewohner stark erhielten.

Die Krieger der Menschen waren stolz und stark, hochgeachtet in ihren Völkern, denn sie waren ihr Schutz. Auch die Jäger und Bauern wurden geachtet, denn ihnen oblag das Gedeihen der Völker. Ihre Basis bildeten die Waffenschmiede und Werkzeugmacher, Gerber und Weber.

Aber an der Spitze der Völker standen unangefochten die Seher und Schamanen, die die Stimmen der Götter und des Landes hörten und die Völker lenkten.

Sie allein sangen von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, entschieden, welche Lieder und Legenden die Völker hörten.

Ihre Kraft war groß, sie lernten, das Wetter, die Herden und sogar das Land selbst zu beeinflussen, zum Wohle aller.

Doch eines Sommers kam Unheil über das Land.

Unheil in Gestalt des mächtigsten und gleichzeitig schönsten Todes, den das Land und seine Bewohner in all der Zeit je erblickt hatten.

Sein mächtiger Echsenkörper floß wie Wind durch die Lüfte; seine gigantischen Flügel verdunkelten die Sonne und ließen sie wie feurige Glut durchscheinen; seine Schuppen schimmerten wie flüssiges Gold.

Er verbrannte das Land mit dem Feuer seiner Lungen, er tötete Unzählige mit seinen goldenen Hörnern, Klauen und Fängen.

Und aus den Kehlen der Sterbenden erklang der Name dieses Drachens:

Goldschimmer.

Die stärksten Krieger der Völker konnten dieses Wesen nicht verwunden, ihre Waffen zerbrachen wirkungslos in den Händen der sterbenden Helden.

Die mächtigsten Schamanen fielen wie das Korn unter der Sense; ihre Zauber waren wirkungslos.

Und als die wenigen überlebenden Schamanen das Ausmaß dieser vernichtenden Wut sahen, übergaben sie das Land und all seine Bewohner dem Drachen und huldigten ihm als König und Gott.

Und Goldschimmer ließ ab von seiner Zerstörung. Er sah auf das Volk, das ihm huldigte, und es gefiel ihm.

Er brannte sich eine Höhle in einen Berg und forderte als Zeichen ihrer Unterwerfung von den Völkern alles Gold und Silber, jeden Schmuck und jede Waffe in die Höhle zu tragen.

Als Zeichen ihrer ewigen Knechtschaft verbot er ihren Glauben, ihre Geschichten und Lieder.

Und zu jeder Sommer- und Wintersonnenwende mußten ihm die Völker neues Gold, Silber und Geschmeide und die feinsten Waffen opfern, um seinen Hort zu mehren; und um seine Lebenskraft zu stärken, forderte er zur Winter- und zur Sommersonnenwende ein Kind, um dessen Lebenskraft zu nehmen.

Und während Goldschimmer in seinem Berg schlief, veränderte sich das Leben der Völker und das des Landes selbst. Hunger regierte das Land; Hunger und Leid. Das Land war verwüstet, viele der Herden verbrannt, und die Menschen, ihres Stolzes und ihres Glaubens beraubt, Sklaven unter Goldschimmers Herrschaft, vergaßen. Sie vergaßen, wie man das Land urbar macht und pflegt, sie vergaßen, wie eine gerechte Jagd die Herden stärkte. Not und Elend trieben sie dazu, das Land zu plündern, seine Herden gnadenlos zu töten, um zu überleben. Sie unterwarfen andere Stämme, um Hilfe in den Bergminen und den wenigen Feldern zu bekommen. Reisende wurden ihres Geschmeides und ihrer Waffen beraubt. Boten wurden gesandt, um die mächtigsten Helden dieser Zeit zu bitten, den Drachen zu töten.

Viele kamen, aber Goldschimmer tötete sie alle. Die verwesenden Leichen der Helden in ihren Rüstungen, ihre wirkungslosen Waffen in ihren toten Händen, dienten Goldschimmer als Zierde und Freude; den unterjochten Völkern und anderen Helden als mahnendes Beispiel für vergeblichen Mut, denn keine Waffe dieser Erde konnte Goldschimmer verwunden. Die Jahrhunderte vergingen. Die darbenden Völker kannten die Zeit, in der Freude und Einklang herrschten, eine Vergangenheit ohne den Brodem des Drachen, nur noch aus den Legenden, die sie sich an den Feuern zuflüsterten. Auch die Völker veränderten sich. Einst stolze Krieger und Jäger, lernten sie, die schönsten und

tödlichsten Waffen mit dem edelsten Leder, die feinsten Münzen und Geschmeide mit den edelsten Steinen, zu schmieden. Alle Männer der Völker lernten, Goldschimmers Hort zu mehren; die Frauen und Kinder sorgten für das Lebensnotwendige. Die wenigen Schamanen, die es gab, wurden zu Priestern des Drachen. Ihre Gebete begleiteten die Gaben, die der Drache an Winter- und Sommersonnenwenden forderte.

Und sie waren es auch, die das Ritual durchführten, das durch Goldschimmers grausamste Forderung entstanden war: Am Vorabend der Sonnenwenden mußten alle Kinder der Völker vor den Berg des Drachen treten. Ein jedes von Ihnen mußte einen Kiesel aus einem Kessel nehmen und in der geschlossenen Faust halten; für die Neugeborenen und die Kleinsten wählten die Eltern. Und wenn alle gewählt hatten,

wurden die Hände geöffnet, und der Kiesel entschied über Leben oder Tod.

Die weißen Kiesel bedeuteten das Leben, der eine Blutrote den Tod. Das Kind, das den blutroten Kiesel hielt, wurde Goldschimmer geopfert.

Die Zeit verging. Viele der alten Künste wurden vergessen, andere nur verborgen weitergegeben; sie wurden nicht mehr gebraucht.

Die einzigen Lieder, die erklingen durften, waren die der Priester zu Ehren des Drachen; sein Abbild das Einzige, das gemalt wurde.

Alle Schönheit, alle Kunst gebührte Goldschimmer. Tausend Jahre waren vergangen, seit Goldschimmers Ankunft. Tausend Jahre des Leids und Elends, erinnert in den hungrigen Augen der Völker, gespiegelt in den edelsten Schätzen. Tausend Jahre, gezählt in den Herzen der Eltern, die ihre Kinder gaben; verloren in den leeren Augen der kleinen Schädel, die den Eingang zu Goldschimmers Höhle säumen.

Tausend Jahre unter der grausamen, ewigen Herrschaft des Drachen. Im Frühling dieses tausendsten Jahres heiratete ein junger

Werkzeugmacher die Frau, der sein Herz gehörte. Und im Winter dieses tausendsten Jahres gebar sie ihm einen Sohn; ein Kind, das die Götter berührt haben mußten, denn sein Lachen erfüllte alle, die es hörten, mit Hoffnung und Glück. Das Lachen dieses Kindes war es, das eine längst verloren geglaubte Gabe in dem jungen Werkzeugmacher weckte: Die Gabe der Stimme. Und der Werkzeugmacher verstieß gegen die Verbote der Priester und sang zu seinem Kind ... sang von den Legenden, die sein Ahne ihn gelehrt hatte. Von einer Zeit ohne die

Herrschaft des Drachen. Doch dann kam der Vorabend der Sonnenwende. Das lächelnde Kind in seinen zitternden Armen, ging der

Werkzeugmacher zu den Priestern vor Goldschimmers Berg. Wie die Kinder und Eltern vor ihm, so nahm auch er einen Kiesel aus dem Kessel. Und wie die Kinder und Eltern vor ihm, so wartete auch er auf den Moment, in dem der letzte Kiesel gezogen wurde. Und er erkannte, wie grausam das Schicksal war, als er in seiner geöffneten Hand den blutroten Kiesel sah. Er sah die Leben aller in den lachenden, goldenen Augen des Kindes, das sterben mußte, damit sie leben konnten. Als er das lächelnde Kind den Priestern übergab, war der Schmerz in seinem Herz so groß, daß seine Tränen bluteten. Und er lief ... er lief, solange ihn seine Beine trugen, fort von dem Berg mit diesem grausamen Gott; fort von dem Lachen, das seine Seele erhellt hatte; fort von den Schreien, die bald ersterben würden.

Als er schließlich erschöpft zusammenbrach, fand er sich in einem Wald wieder; auf einer Lichtung, die er nicht kannte. Und er sah hinauf in die Weite des Himmels; er erblickte dort einen neuen Stern, prachtvoll, weißgolden leuchtend; da wußte er, daß dies die Seele seines Kindes war. Und all sein Leid und all sein Schmerz brachen aus seiner Seele; fluteten aus seinem Herz, wallten durch seine Stimme,

als er sang. Er sang von der Liebe, die das Kind gezeugt hatte; sang von der Welt, die es niemals erblicken würde; sang von den lebenden Wundern, die seine wunde Seele nun sah; sang von all dem Leid, das der Drache gebracht hatte. Und mit tränenblinden Augen zu diesem Stern blickend, bat er seinen Sohn und die Götter, ihm eine Waffe zu geben; eine Waffe, um Goldschimmer zu töten. Und als zu Boden sank, erschöpft und weinend, durchstieß ein Licht den Himmel, einem Speer gleich; und ein rotglühendes Stück eines Sterns bohrte sich in den Boden der Lichtung vor dem Werkzeugmacher. Er blickte auf und sah, daß in dem geborstenen, rotglühenden Stein heißes, flüssiges Metall lag.

Der Werkzeugmacher erkannte, daß dies ein Geschenk der Götter sein mußte; sie hatten seine Gebete erhört. Und so schlug er in einen Felsen auf der Lichtung eine Form, um das flüssige Metall zu gießen; die Form eines Speers, gemäß dem Zeichen der Götter. Er brach das Sternengestein auf und ließ das Metall in die Form fließen; und es folgte der Form willig, so als wäre dies seine Bestimmung. Um das heiße Metall zu kühlen, benetzte er es mit Schnee; um es zu härten, badete er den noch warmen Speer in seinem eigenen Blut. Und er sah, daß dieser Speer vollkommen war; zäher als jedes Metall, das er kannte; härter als selbst der härteste Diamant; die Schneiden so scharf, daß sie selbst Edelstahl schneiden konnten; und er leuchtete in einem Blau, wie das Herz eines Gletschers so kalt. Der Werkzeugmacher hielt den leuchtenden Speer in seinen Händen, und er gab ihm einen Namen: Drachentöter. Er dankte den Göttern, nahm den Speer und kehrte am Tage nach der Sonnenwende in sein Dorf zurück. Und er ging zu dem Berg des Drachen, die zitternde Menge, die ihm gefolgt war, am Fuß des Berges zurücklassend. Er ging hinein, in die lange Höhle, die in den Berg führte, vorbei

an den leblosen Augen seines Kindes und denen der anderen Kinder. Vorbei an den Rüstungen und Skeletten der Helden, die es gewagt

hatten, Goldschimmer zu fordern. Und er begann zu singen; er sang von dem Land; von dem Leben, das es nicht mehr gab; von der Liebe der Menschen zueinander und zu dem Land, das sie nährte. Er sang von Goldschimmer, seiner Herrlichkeit, die doch nur zerstörte; von den jungen Leben, die er genommen hatte, um selbst zu leben. Singend betrat er den Hort des Drachen und sah, wie dieser auf den Schätzen lag, wie verzaubert seiner Stimme lauschend. Und er sang von seinem Leid, als er sein Kind opfern mußte; von dem Zeichen der Götter, die ihm den Drachentöter gesandt hatten. Und als Goldschimmer diesen Speer sah, spürte er dessen eisige, tödliche Kraft. Voller Wut schlug er mit seinen Krallen nach dem Menschen, der es wagte, ihn zu bedrohen. Doch der Werkzeugmacher, der nun keine Furcht mehr verspürte,

wich den Krallen aus und stieß den leuchtenden, eisigen Speer in Goldschimmers flammendes Herz. Tödlich verwundet sank Goldschimmer auf seinem Hort zusammen; der Werkzeugmacher, den aller Zorn nun verlassen hatte, sah in die brechenden Augen des Drachen und verstand. Er versprach ihm, daß kein Mensch jemals seinen Hort berühren würde. Er versprach ihm, daß der Drachentöter für immer hier im Berg begraben werden würde; und er versprach, daß er zu allen Men-schen von der Herrlichkeit Goldschimmers singen würde und ein jeder diese in den Bildern seiner Stimme sehen würde. Und der Drache sah in die Augen des Menschen, sah seine Seele

und das Mitleid in ihr und wußte, daß er die Wahrheit sagte. So bat Goldschimmer den Werkzeugmacher, von seinem Blute zu trinken und seinem Herzen zu essen, das Geschenk ewiger Jugend; und aus seinem Horn und seinen Sehnen eine Harfe zu formen, aus seiner Haut und seinen Flügeln eine schützende Hülle, und diese Harfe nach ihm zu benennen, damit seine Seele darin ruhen könnte. Und bevor er starb, gab Goldschimmer dem Werkzeugmacher einen neuen Namen: Nach seiner Stimme, die wie ein Vogel in die Lüfte stieg und seiner Tat, nannte er ihn Falcon Drachentöter.

Und Falcon gehorchte der letzten Bitte des Drachen. Er trank von seinem noch warmen Blut, aß von dem noch warmen Herzen und spürte, wie seine Wunden heilten und neue Lebenskraft ihn durchströmte. Er schnitt mit Hilfe des Speers Horn, Sehnen und Haut aus Goldschimmers Körper und Flügeln und schuf daraus eine Harfe; eine Harfe, deren Saiten der leiseste Lufthauch zum Klingen brachte, so hell und rein wie ein Sonnenstrahl in einem Tautropfen.

Eine Harfe, die in dem sanftesten Gold schimmerte, wie das Licht eines neuen Morgens.

Und so nannte Falcon diese Harfe

Goldschimmers Lied

und schwor, daß von diesen Saiten nur gute Lieder erklingen würden und die Hände, die sie spielten, und die Stimme, die dazu sang, ihrer und Goldschimmers würdig sein würden. Er legte die Harfe in seine Hülle, nahm den Speer und warf ihn in die Decke der Höhle, in die dieser sich bohrte; und ein Glühen ging von dem Speer aus, als Hitze sich ausbreitete und hinter Falcon das Gestein schmelzen ließ.

Und als Falcon aus dem Berg trat, sahen die verängstigen Menschen, wie der Berg erglühte und schmolz; als ewiges Grab Goldschimmers.

Die Menschen sahen die Hülle der Harfe, hörten ihre Saiten erklingen, sahen die Kraft, die der ehemalige Werkzeugmacher ausstrahlte.

Und aus Respekt vor seiner Tat knieten sie vor ihm nieder, als er verküntete, daß er nun Falcon Drachentöter sei, Bewahrer der Legenden und Lieder, Sänger und Barde; er hieß sie zu hören und sang ihnen auf Goldschimmers Lied die Legenden der Ahnen und wies ihnen so den rechten Weg zu leben. Als sich die Nachricht von Goldschimmers Tod verbreitete, wurde in allen Ländern ein Gesetz erlassen:

Niemand durfte einem Sänger oder Barden das Wegerecht verweigern, noch Essen oder Unterkunft oder Hilfe, zum ewigen Lohn für die Tat, die nur ein wahrer Sänger vollbringen konnte.

 

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