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”Feuer und Eis” Leseprobe
 

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Keuchend fuhr sich der brünette Junge über die Stirn und wischte den warmen Schweiß, der sich unter dem Helm gesammelt hatte, mit dem Handrücken ab. Was für ein Fight!

»Heiß, Hell?« Ein blonder Hüne, der den Brünetten trotz dessen 1,90 Meter noch um ein paar Zentimeter überragte, klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und wandte sich dann seinem Spind zu, zerrte sich wie alle anderen des Eishockeyteams der Easton-High, der »Easton Devils«, das Trikot und die Schutzkleidung vom Leib, um dann in Richtung Dusche zu wandern.

Hell sah ihm verschmitzt nach, verkniff sich nur aufgrund des Grades seiner Erschöpfung eine körperliche Vergeltung der spitzen Bemerkung, die pfeilgerade auf seine Namenswahl angespielt hatte. Hell. Eigentlich – und nur aufgrund der Inkompetenz seiner spießigen Eltern, die zu beschränkt waren, einen ordentlichen Namen für ihren zweiten Sohn zu wählen – hieß er Ethan. Er untertrieb wirklich, wirklich nur leicht, wenn er behauptete, den Namen zu hassen. Denn der passte weder zu seiner coolen Erscheinung, noch zu seinen Baggy Pants, noch zu seinen funkelnden braunen Augen, die im richtigen Licht und vor allem, wenn er wütend wurde, leicht rötlich schimmerten. Diese, und die Tatsache, dass er mit seinem Nachnamen – Halley – nicht ganz so gnadenlos vom Schicksal bestraft worden war, waren ausschlaggebend für seine Namenswahl gewesen. Nur leider hatten noch lange nicht so viele Leute seine Entscheidung akzeptiert, wie er gerne gewollt hätte.

»Ethan, Besprechung im Büro! Beeil dich!«

Hell stieß ein leichtes Knurren bei der Erwähnung des Namen aus und stopfte sich das achte Kaugummi dieses Tages in den Mund. Sein Trainer war einer der Menschen, die ihn noch immer mit diesem furchtbaren Namen ansprachen. Doch er war einer der wenigen, die Hell respektierte. – Sonst hätte die Farbe seines Spiegelbilds schon lange mit jener der untergehenden Sonne auf dem pazifischen Ozean konkurrieren können.

Mit Schwung knallte er die Spindtür der weitläufigern Umkleiden zu, schlang sich ein Handtuch um den inzwischen unbekleideten Körper, verschob den Gang zur erlösenden Dusche auf später und trabte missmutig über den Gang auf das kleine Zimmer hinter den blauen Jalousien zu, das sich neben der Eisfläche befand.

Er machte sich nicht die Mühe, zu klopfen, sondern trat sofort ein. Der Trainer, ein hochgewachsener Mann mit leichten Geheimratsecken, den die Teammitglieder nur Henning nannten, musterte ihn kurz und zog bei seinem Aufzug eine Augenbraue in die Höhe.

»Ist das nicht ein wenig kalt?«, fragte er, zuckte aber mit den Schultern, als Hell nur kurz die breiten Schultern dehnte und sich ohne ein weiteres Wort auf einen Stuhl fallen ließ, dabei sein Kaugummi abwartend mit den Zähnen malträtierend.

»Gut, ich will nicht um den heißen Brei herumreden«, begann der Mann und seufzte leicht.

Hell runzelte die Stirn und ärgerte sich nebenbei, nicht doch etwas angezogen zu haben. Die Kälte des Eises zog durch die kleinen Ritzen im Fensterbrett.

»Ihr seid nicht so gut, wie wir es erwartet haben. Ich weiß, du bist ehrgeizig und reißt das Team mit deinem Schwung mit, aber...« Erneut seufzte Henning. »Ihr werdet den Pokal nicht holen können«, stellte er schließlich fest, und Hell sprang zornig auf.

»Was soll das heißen? Wir trainieren wie die Besessenen! Wir werden den Pokal gewinnen, und dann werde ich endlich...«

»... Ich weiß: ›Aus diesem Drecksloch von Schule rauskommen‹«, vollendete Henning seinen Satz. »Ethan, du bist der Leader, ein Libero auf dem Eis. Aber du bist kein Team. Und genau das ist dein Problem.«

Hell schnaubte abfällig und ließ sich mit verschränkten Armen zurück auf den Stuhl fallen. Diese Worte kannte er bereits. Mindestens dreimal hatte er sie diese Woche schon gehört. Was sollte das? Er schoss den Puck ins Netz. Mehr musste doch nicht sein!

»Ihr werdet das Eis teilen müssen«, riss es ihn wieder aus seinen Gedanken, und ein fassungsloses Lachen entwich seiner Kehle. Doch noch bevor er intervenieren konnte, fuhr Henning fort: »Wir bekommen einen neuen Schüler. Er musste seine letzte Schule aufgrund verschiedener Differenzen verlassen.«

»Er ist geflogen!«

»Er ist einer der besten Eiskunstläufer des Landes, und er wird hier für den Titel trainieren. Ihr werdet teilen müssen. Die Eisbahnen ebenso wie die Duschen und die Umkleideräume.«

Hell schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste. Als er die nächsten Sätze hörte, verdunkelten sich seine Augen und verengten sich zu kleinen Schlitzen.

»Es tut mir leid, Ethan. Ich habe alles versucht. – Wir werden die Trainingszeiten um die Hälfte kürzen müssen. Der Traum vom Pokal wird genau das bleiben: Ein Traum.«

Nicht weit von den beiden entfernt, warf der Eiskunstläufer, über den der Trainer sprach, die Türe zu der Eishalle in die Angeln und fluchte laut vor sich hin. Sein mit breiten Stahlschnallen verzierter, weitschwingender Ledermantel wogte mit jedem seiner wütenden Schritte, ehe er vor der Tür der Umkleide innehielt – den Rucksack von seinem Rücken nahm und auch diese Türe mit voller Wucht aufstieß, die verdutzten, halbnackten Eishockeyspieler darin kalt musternd.

»Glotzt nicht so, Mädels – sonst beiß ich euch noch was ab! Und bevor einer von euch zu denken anfängt und nachfragt: Ab jetzt bin ich auch auf eurer Penne, und ich darf auch die Umkleide benutzen. Also tut euch selber ’nen Gefallen und quatscht mich nicht an, ich bin ziemlich mies gelaunt und habe keine Lust auf SmallTalk.« Ohne ein weiteres Wort ging er nach hinten zu einer freien Bank – warf seinen Rucksack darauf und fluchte blumig auf Spanisch, zog seinen Mantel und die Stiefel aus, legte beides auf die Seite und entkleidete sich weiter. Als er schließlich nur noch seinen Slip anhatte, öffnete er den Rucksack und holte die pechschwarzen Schlittschuhe heraus – legte sie auf den Boden und nahm einen schwarzen Acrylanzug heraus, schlüpfte hinein und schloss den Reißverschluss bis zum Nabel, den langen Kragen des offenen Hemdes ein wenig zurechtzupfend. Erst dann nahm er den Haargummi ab und schüttelte sein dickes, hüftlanges Haar aus, zog sich noch fingerlose Nietenhandschuhe über und legte einige breite Nietengürtel um seine schmalen Hüften, ehe er die Schlittschuhe aufnahm und zum Ausgang Richtung Eisfläche ging, die gerade eben geglättet wurde, keinen weiteren Blick auf die noch immer verdatterten Eishockeyspieler verschwendend.

»Verdammt, Henning! Das ist nicht dein Ernst!« Hell raufte sich nun zum mindestens zwanzigsten Mal in diesem Gespräch die Haare. Henning hatte ihm noch weiteres über den Neuen erzählt. Es interessierte den brünetten Teamleader allerdings nicht die Bohne. Dieser Kerl sollte lieber wieder verschwinden, bevor es Verletzte gab. Hell hatte einen Ruf zu verteidigen. Er hatte schon Leute zusammengeschlagen, weil diese ihm nur zur falschen Zeit über den Weg liefen, dann konnte er es erst recht bei einem Typen, der ihm die letzte Chance auf den Titel und somit auf eine Flucht aus seiner jetzigen Welt nahm.

Nächstes Jahr würde er auf ein College gehen. Nicht, dass eines ihn wegen seiner Noten nehmen würde, denn diese waren gerade schlecht bis ganz miserabel, weil er sich lieber mit der blonden Schickse aus seinem Wirtschaftskurs amüsierte, als Formeln zu pauken. So war seine einzige Chance, von einem Talentsucher der Collegemannschaften entdeckt zu werden. Und das würde nur passieren, wenn er den Titel in den Händen halten würde.

»Verdammt.« Hell warf Henning noch einen letzten bösen Blick zu, dann raffte er sein Handtuch enger und sprang auf, verbrachte die nächsten Minuten damit, in wunderbarer Wortgewalt zu fluchen, bevor er geladen den Raum verließ. Der Trainer sah ihm kopfschüttelnd nach, bis sein Blick auf einen schwarzhaarigen jungen Mann an der Eisfläche fiel.

Derweil trampelte Hell wutschnaubend in die Kabine zurück, schmiss das Handtuch auf den Boden und zerrte sich seine Sachen über den Leib. Als er den von der Begegnung mit dem Schwarzhaarigen verwirrten Blick seiner Kameraden sah, zog er entnervt eine Augenbraue in die Höhe.

»Was?«, motzte er, bevor er kopfschüttelnd seinen Kaugummi in den Mülleimer spuckte, sofort den nächsten nachschob und ohne ein weiteren Wort die Umkleide verließ, seinen Rucksack auf einer Schulter balancierend und mit der Hand stützend.

»Ethan«, brüllte jemand hinter ihm. Als ob Hell nicht schon genug geladen war! Er ignorierte Henning mit Absicht, als er einen seltsamen Jungen nahe der Eisfläche sah, auf der noch die Glättmaschine stetig ihre Bahnen zog.

»Hey, du hast hier nichts verloren!«, brüllte er ungehalten und steuerte auf den Jungen zu. »Das ist hier kein Vergnügungspark, hier kann nur laufen, wer hier auch zur Schule geht!«

Eiskalte, silbergraue Augen wandten sich bei den harschen Worten dem großen Eishockeyspieler zu und musterten ihn so geringschätzig, dass es schon eine Beleidigung war – dann schnaubte der junge Spanier und zog die Hosenbeine über die verschnürten Schlittschuhe, stand auf und stemmte die Hände in die Seiten.

»Führ dich nicht so auf, als ob dir die Bruchbude hier gehören würde, Großer!! Damit du’s weißt – auch wenn ich’s nicht will, ich GEHE hier zur Schule, und zwar seit heute. Ich hab verdammt schlechte Laune und keine Lust, schon wieder einen Verweis zu bekommen, weil ich jemanden ins Krankenhaus gebracht habe, also pack deine Sachen und verzisch dich!!«

In diesem Moment fuhr die Maschine vom Eis. Ramiro trat ohne ein weiteres Wort auf die glatte Fläche und fuhr geschmeidig ein wenig rückwärts – brüllte dann ein lautes »Trainer!!! Musik!!!«, ehe er wieder fluchte und mit wenigen Schritten begann, rückwärts durch die Halle zu fahren, um sich aufzuwärmen.

»Na warte, Bürschchen!«, zischte Hell gereizt und griff sich, ohne hinzusehen, seine Ersatzschlittschuhe, die immer gleich neben der Bahn aufbewahrt wurden. Seine Augen funkelten gefährlich. DAS war er also! Das war der Neue, der ihn vom Eis verdrängt hatte und ihn höchstwahrscheinlich auch noch den Pokal kosten würde!

Ungeduldig zerrte er sich das weiße Leder über die Füße und glitt geschmeidig auf das Eis, schloss einen Augenblick genießerisch die Augen, als die Kufen die blankgeschliffene Oberfläche berührten, dann stob er auf den Schwarzhaarigen zu. »Wollen doch mal sehen, wer hier wen ins Krankenhaus bringt!«

Die Musik hatte inzwischen zu spielen begonnen. Henning, der Verräter!

Mit hochmütigem Grinsen folgte er den Bewegungen des anderen eine Weile, umrundete ihn stetig und engte den Kreis mit jedem Mal mehr ein, den Konkurrenten dabei mit Blicken durchbohrend. Immer schneller und schärfer wurden seine Kreise, bis er mit einem Mal stoppte, so dass das Eis unter seinen Kufen hochstob. Immer noch kochend, doch äußerlich gelassen verschränkte er die muskulösen Arme vor der Brust, baute sich vor dem anderen in seiner vollen Größe auf und ließ ihn nicht aus den Augen. Dann plötzlich sprintete er los, packte den Kleineren am Nacken, hinderte ihn somit daran, sich weiter aufzuwärmen und zog dessen Kopf an den Haaren grob nach hinten. Seine Lippen näherten sich Ramiros Ohr bis auf wenige Zentimeter, und seine Stimme klang gefährlich leise, als er sprach: »Hör zu, das Eis gehört mir, verstanden? Du wirst hier nicht rumspielen und wenn ich dir dafür die Beine brechen muss. Das Eis ist für Sport da und nicht für das, was du machst, Ballerina.«

Bisher hatte sich Ramiro nicht gewehrt, da er nicht schon am ersten Tag eine Rüge wollte – doch nun reichte es ihm, und er knurrte wütend, stieß sich einfach ab und nutzte die Schulter des Größeren als Hebel, als er rückwärts über ihn sprang und sicher auf dem Eis aufkam, sofort die gezackten Spitzen seiner Kufen in das Eis schlagend.

»Du willst Streit, Eisprinzessin?! Dann komm her, ich zeig dir, dass man nicht so ein dummer Bulle wie du sein muss, um jemanden ins Eis zu prügeln!!« Seine Hände hatte der Schlankere an den Seiten zu Fäusten geballt und schon die Muskeln seiner Beine angespannt, um abzuspringen, als ein wütendes Brüllen ihn zurückhielt.

»Verdammt – der Trainer. Das ist noch nicht gegessen, Eisprinzessin – in drei Stunden, nach dem Training, vor der Halle, keine Waffen, sonst sind wir beide dran. Und wehe, du drückst dich!!« Zornig funkelte Ramiro ihn an – dann stieß er sich ab und fuhr um ihn herum zu den Banden, ließ die Standpauke des Trainers über sich ergehen und brüllte zurück, beschäftigte ihn, so dass der Eishockeyspieler wieder verschwinden konnte.

Hell fluchte leise und machte sich schnell aus dem Staub. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Der nächste Verweis wartete nur so auf ihn, wenn er sich schon wieder prügeln würde.

»Das ist noch nicht gegessen«, zischte er leise und machte, dass er vom Eis kam. Und nun hatte er wenigstens Gelegenheit für seine langersehnte Dusche. Missmutig zog er die Schuhe von den Füßen und stapfte in die Umkleide.

Eine halbe Stunde, eine warme Dusche und zwei Kaugummis später war er fertig und verließ die Halle. Einen kurzen Blick warf er noch auf die Eisfläche zurück, sah den Schwarzhaarigen über die Fläche gleiten, hochkonzentriert, das Gesicht verhärtet. Die grazilen und doch kraftvollen Bewegungen entlockten Hell nur ein verächtliches Lachen.

»Nur Schwuchteln machen Eiskunstlauf«, murmelte er leise und wandte sich dem Hauptgebäude zu, in dem sich auch sein Zimmer befand. Nur wenige Schüler nutzten diese Möglichkeit, da es scharfe Regeln für die Bewohner gab. Aber Hell war die internatsgleiche Struktur noch immer lieber, als bei seiner Familie zu wohnen.

Zwei Stunden später war er wieder an Ort und Stelle, lehnte an der grauen Schulhofwand vor der Eishalle, eine Zigarette im Mundwinkel und die Augen halb geschlossen. Eine dralle Blondine winkte ihm von weitem zu, und er ließ sich zu einem halbherzigen Lächeln und einer kurzen Handbewegung herab. Er hatte keinen Schimmer, wie sie hieß. Sie war hübsch, sie war unkompliziert, sie hatte bis heute Morgen sein Bett geteilt.

»Himmel, wann kommt der Kerl?«, murmelte er und vergrub die Hände gelangweilt in den Taschen seiner Baggy.

»Dacht ich’s mir doch – sobald eine Schnitte auftaucht, habt ihr kein Hirn mehr für etwas anderes, sackt alles in die Hose. Obwohl du dort scheinbar beträchtliches Hirn hast, Eisprinzessin.« Leise, gehässige Worte, die aus dem Schatten des Hinterausganges klangen – dann war das unmissverständliche Geräusch der Tasche zu hören, die auf den Boden gestellt wurden, und Ramiro trat aus dem Schatten heraus, legte den langen Mantel daneben und ließ die Knöchel seiner Hände in den fingerlosen, mit Nieten verstärkten Lederhandschuhen knacken.

»Na dann – willst du Regeln aufstellen, Großer? Oder nehmen wir die der Straße, falls ein eitler Fatzke wie du sie kennt ....«

Hell schnaubte und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Hast du was gesagt, Ballerina?«

Mit leichtem Schwung stieß er sich von der Wand ab und trat seine Kippe auf dem Boden aus.

»Willst wohl lieber reden, als schlagen? Meinetwegen können wir anfangen. Regeln sind einfach. Keine Schläge unter der Gürtellinie – wenn du meinst, nur mit solchen Tricks gewinnen zu können, werde ich mich auch nicht zurückhalten. Keine Waffen. Da du ja offensichtlich körperlich im Nachteil bist, lasse ich dir aber die da.« Er deutete auf die Nietenhandschuhe und lächelte. »Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich will einen fairen Kampf.«

Mit einem unverschämten Ausdruck streckte er Ramiro die Hand entgegen; das Grinsen weitete sich, als dieser sie ausschlug und die Füße in Angriffshaltung setzte. Ohne weitere Aufforderungen abzuwarten, holte Hell zum ersten Schlag aus. Der Schwarzhaarige wich gekonnt nach hinten aus, eine Faust raste nach vorn und streifte Hell leicht am Wangenknochen. Das würde wohl doch interessanter werden, als er gedacht hatte.

Der Fight dauerte an und nach einigen Schlägen war Hell sich sicher, dass sein erster Eindruck ihn nicht getäuscht hatte. Der Kampf WAR interessant! Ramiro war schnell, konnte gut parieren, aber ebenso gut austeilen wie Hell selber. Dem machte es nichts aus, dass auch er ab und an getroffen wurde, denn auch er setzte ein paar gute Treffer. Er war selber erstaunt, auf welchem hohen Niveau die Begegnung verlief, das hatte er nicht gedacht. Er hatte als Hockeyspieler Erfahrung mit Fouls und harten Blockern, doch auch wenn sie gnadenlos zuschlugen, überschritten die Angriffe nie einen zu hohen Grad.

Ein erneuter Schlag folgte, keuchend wischte sich Hell das rote Rinnsal vom Gesicht, das sich aus seiner geplatzten Lippe gelöst hatte und wich ein Stück zurück. Es schmerzte nur wenig, und er lächelte spöttisch.

»Mehr hast du nicht zu bieten?«, höhnte er und freute sich diebisch, als er sah, dass auch Ramiro langsam außer Atem kam und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er hatte ebenfalls Kratzer im Gesicht, und Hell war sich sicher, dass sein Schlag in die Magengrube auch nicht seine Wirkung verfehlt hatte. Es war erstaunlich, dass sie ein ähnliches Niveau hatten. Ramiros Schnelligkeit glich seinen Mangel an Stärke vollkommen aus. Auch wenn es Hell schwer fiel, es zuzugeben: Sie waren beinahe ebenbürtig.

Eine Bewegung seitlich von ihm ließ ihn stutzen.

»Shit!«, zischte Hell, als er den Wächter des Schulgeländes erkannte. Wenn er noch einmal bei seinem Sozialarbeiter wegen einer Schlägerei aufkreuzen müsste, würde es nicht nur bei einer Verwarnung bleiben.

Hell war nur einen kleinen Moment abgelenkt, und doch reichte es, um unangenehme Bekanntschaft mit den schweren Ledernietenstiefeln des Schwarzhaarigen zu machen, deren Spitzen Hells Hüfte trafen. Fluchend drehte er sich zu dem anderen um, unterdrückte den Schmerz und sprang nach vorne. Geschickt schlang er seinen Arm um Ramiros Oberkörper und nahm ihn in den Schwitzkasten, bevor er sich mit ihm zusammen hinter eines der Gebüsche fallen ließ.

Keinen Moment zu früh. Sekunden später konnte er die Schritte des Wächters hören. Nach scheinbar endlosen Minuten verschwand dieser wieder, und Hell nahm die Hand von Ramiros Mund, den er bis jetzt erbarmungslos zugepresst hatte. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, als der andere ihn anfunkelte.

»Sorry, aber ich glaube, das wird heute nichts mehr. Hier sind zu viele Leute.«

Die sonst so kalten, silbergrauen Augen des jungen Spaniers schienen wahre Flammen zu sprühen, so wütend war er – doch dann tat er etwas völlig Unerwartetes. Er schlang seine Linke um Hells Oberkörper, zog ihn zu sich herab und küsste ihn hart, während seine Rechte dessen Nacken gepackt hatte und Hell an Ort und Stelle hielt. Nach einigen Sekunden ließ Ramiro den völlig Überraschten jedoch los und warf ihn auf die Seite – stand auf und wischte mit dem Handrücken über seine Lippen, spuckte aus und verzog verächtlich die Lippen.

»Der Fight war nicht schlecht, Eisprinzessin – aber du bist der miserabelste Küsser, der mir je untergekommen ist. Geh zu der Schnitte und lass dir die Wunden lecken – der Kampf ist noch nicht zu Ende, wir vertagen ihn nur, damit wir nicht vom Wachmann erwischt werden. Adios, gilipollas– wir sehen uns noch.« Mit diesen Worten drehte er sich um, schnappte seinen Rucksack und verschwand in die Richtung der Studentenwohnungen.

Nach den ersten Schreckensmomenten fuhr Hell mit einem Ruck in die Höhe.

»Fuck, perverse Schwuchtel!«, brüllte er dem Verschwindenden hinterher und wischte sich mit dem Ärmel über die Lippen. Seine Finger zitterten vor Wut, als er eine Kippe aus der Schachtel zog, und erst, als der Rauch seine Lungen durchströmte, wurde er zumindest äußerlich etwas ruhiger. Innerlich jedoch bebte er. Verdammt, was bitte war das gerade gewesen? Ein Kerl hatte ihn, IHN, geküsst!

»Shit! Verdammter Shit!«, fluchte er zornig und nahm erneut einen tiefen Zug. Er war hetero, warum küsste ihn ein Kerl?!

»Eisschwuchtel«, knirschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und raffte seine Sachen. Erst im Gehen bemerkte er, dass auch Ramiro den selben Weg eingeschlagen hatte.

»Fuck, fuck, fuck! Das gibt es doch nicht!« Nicht genug, dass der Kerl nun an seiner Schule war, nein, er musste auch noch im selben Komplex wie er wohnen. Sein einziger Zufluchtsort!

Zitternd drückte Hell die Klinke hinunter und sprintete die restlichen Stufen bis zu seinem Zimmer hinauf, wo er sich atemlos auf sein Bett fallen ließ. Es roch noch nach dem Parfüm des blonden Mädchens.

Die Stelle, an der Ramiro ihn mit dem Stiefel getroffen hatte, schmerzte, als er sich umdrehte, um nach seinem Wecker zu greifen und diesen für den nächsten Tag zu stellen. Genau im Augenblick der Drehung fühlte er noch etwas anderes Seltsames. In schrecklicher Vorahnung ließ er den Blick an sich hinabgleiten und erstarrte. Mit einem Jaulen fiel er zurück in die Kissen.

»Das gibt es doch nicht«, hauchte er kläglich und wagte noch einen weiteren Blick. Doch auch dieser änderte das Bild nicht. Zitternd richtete sich Hell auf und trabte in sein Bad, das nur durch eine dünne Schiebetür von seinem Wohnraum getrennt war. In diesem Moment dankte er Gott und der Welt, dass er keinen Gemeinschaftswaschraum aufsuchen musste.

Er brauchte eine Dusche. Eine KALTE Dusche.

Der junge Spanier hatte mit einem gehässigen Grinsen das Fluchen des Größeren gehört und leise dabei gelacht – genau das hatte er damit bezwecken wollen, manchmal waren die einfachsten Mittel noch immer die Besten, um zumindest einen kleinen Sieg davonzutragen. Schnell hatten seine langen Beine ihn über den Campus zu den Wohnungen getragen und ebenso schnell lief er die Stufen zu seinem Einzelzimmer hoch – so trainierte er ein wenig die Beinmuskeln und blieb in Form, auch wenn er nicht, wie viele professionellere Eisläufer, dauernd in Fitnesscentern herumhing.

Nachdem er bei seinem Zimmer angekommen war, warf er die Türe in die Angeln und schloss ab – erst dann entspannte er sich und warf den Rucksack in die Ecke, zog Stiefel und Mantel aus und verschnaufte dabei ein wenig.

»Maldito! Schon am ersten Tag Ärger. Was hat der Arsch sich eigentlich dabei gedacht, mich so anzumachen?!« Danach folgten einige sehr bildgewaltige Flüche in Spanisch, ehe er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, auszog und schließlich in die kleine Dusche ging, die er sich vom Direktor erstritten hatte.

»Dieses Aas ... groß, dumm und natürlich der Captain der Eishockeymannschaft. Laut dem Trainer der einzige Spieler dieser Luschen, der was taugt. Na, mal sehen – wenn er so spielt, wie er küsst, dann ist es kein Wunder, dass sie so oft verlieren. Pah!« Leise vor sich hinschimpfend stieg er unter das heiße Wasser – ließ es über seinen narbenbedeckten Körper fließen und entspannte sich langsam, bis er schließlich nach einer halben Stunde wieder herauskam, sich abtrocknete und ins Bett legte, um für den morgigen Schultag ausgeschlafen zu sein, auch wenn er am liebsten geschwänzt hätte.

 

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